Wenn Sie bisher geglaubt haben, dass ein Tennis-Turnier nur eine metaphorische Darstellung eines besonderen sexuellen Erlebnis ist, dann sollten Sie weiterlesen. Dort finden Sie einen alternativen Ansatz zur Interpretation dieser Sportart. Meinten Sie bisher, dass ein Tennis-Spiel nur ein Tennis-Spiel ist – ja dann können Sie Ihren Horizont erweitern, indem Sie weiterlesen. Sollten Sie eine andere Sichtweise haben, dann müssen Sie weiterlesen. Irgendwas zu lesen tut ihnen gut, glauben Sie wenigstens das!
Transkript der Radio-Berichterstattung vom Tropical Open 2021, Muster gegen Naturaleza – Live aus Cuenca, Ecuador
"Ein heißes Buenos días aus dem ausverkauften Americano-Stadion in Cuenca an meine Zuhörerinnen und Zuhörer in Übersee. Wir haben glühende neununddreißig Grad Celsius und strahlend hellen Sonnenschein. Aber es ist nicht die Temperatur, welche die Stimmung hier aufheizt, sondern vielmehr das fast schon epochale Treffen zweier Giganten des Tennissports. Maximilian Muster spielt gegen Jorge Naturaleza im fünften Turnier der Grand Slam Reihe und damit den Abschluss eines aufregenden Tennisjahres. Auf jeden Fall können wir großes Tennis erwarten, denn es sind auf beiden Seiten Kontrahenten die sich in ihrer Art zu spielen so stark unterscheiden, dass man fast schon meinen möchte, es sei ein Treffen zweier gänzlich unterschiedlicher Tenniswelten, die nur Gemeinsamkeiten bei Schläger, Ball und Regeln haben. Die Wahl auf den Austragungsort Cuenca will etwas überraschen weil wir alle erwartet haben, dass die Hauptstadt Ecuadors das Match austragen wird. Aber da Quito nicht im Stande war alle Vorgaben der Internationalen Tennis Federation zu erfüllen, mussten die Veranstalter auf die nur fünfundfünzigtausend Einwohner große Stadt Cuenca ausweichen. In Windeseile konnten die Verantwortlichen eine Tennisarena errichten, die sich problemlos mit Wimbledon messen kann – zumindest was die Zuschauerränge betrifft, denn diese sind prominent mit namhaften Vertreten aus Politik und Wirtschaft von allen Kontinenten des Globus bestückt. Wer es sich leisten kann, will auch sagen können: "Ich war 2021 in Cuenca und habe das Match des Jahrzehnts, des Jahrhunderts, was sage ich, seit ever gesehen!" Ich sehe gerade wie sich der Präsident von Ecuador neben den Öl-, Gas- und Energiemagnaten Piotr Reprushnik setzt. Die Tickets in der vorderen Mitte des Zuschauerrangs wurden nie verkauft – vereinzelt gab es Gebote im Internet in der Höhe von über zwanzigtausend US-Dollar, nur um dort zu sitzen und 3 Stunden Tennis jenseits des bisher gebotenen zu erleben. Kein Wunder, denn es sind zwei Größen des Tennis die aufeinander treffen, in einem Match das schon fast philosophische Fragen der Menschheit klären könnte.
Max Muster ist aus guten deutschem Hause. Als Sohn bürgerlicher Eltern, die sich im Ruhrgebiet ein kleines Industrieunternehmen aufgebaut haben, konnte sich Max Muster sorgenlos auf seine einzige Leidenschaft, wie er so oft beteuerte, das Tennis konzentrieren. Jede freie Minute verbrachte er auf dem Tennisplatz – es wurde sogar berichtet, dass er niemals ohne Schläger in seine Schule ging. Seine Eltern begrüßten natürlich seine Leidenschaft, drängten ihn aber zu einem BWL-Studium, schließlich sollte er als einziger Sohn das Familienunternehmen übernehmen. Jetzt verdient er als Tennis-Star mehr als zwanzig Millionen US-Dollar pro Jahr, sollte er das Match verlieren, geht er mit einer Summe von fünfhundertausend US-Dollar nach Hause – das entspricht ungefähr dem Jahresgewinn des elterlichen Unternehmens.
Sein Kontrahent, Jorge Naturaleza wuchs als Sohn einer Bauernfamilie mit acht Geschwistern auf. Bildung war nicht finanzierbar, selbst Tennis als Hobby wäre undenkbar gewesen. Doch der junge sechsjährige Jorge verbrachte oft bis zu zwölf Stunden damit, einen Tennisball mit seinem ersten Tennisschläger, den er auf einer Müllhalde gefunden haben soll, gegen eine Mauer zu schlagen. Und das tat er über viele Jahre seiner Kindheit hinweg. Es sprach sich herum, dass es da einen Jungen gibt, der viele Stunden nichts anderes tut als einen Ball gegen eine Wand zu schlagen und so wurden auch die ersten Investoren auf diesen seltsamen Jungen neugierig. Seine ersten Manager glaubten nicht daran, dass der junge Jorge es auf die Bühne des großen Tennis schaffen kann. Vielmehr wollten sie nur sein Talent nutzen um schnell Profit zu schlagen und so wurde er mit dem Minimum ausgestattet und für jedes mögliche Turnier angemeldet. Und er gewann – auch wenn viele damals meinten er würde nur im Namen des Profits verheizt.
Naturaleza entwickelte einen Tennisstil, der auf die meisten Gegner zermürbend wirkte. Man nannte ihn eine "Gottheit" des Einfall-Ausfall-Winkels: je mehr man Naturaleza in Bedrängnis bringen wollte, umso mehr reagierte er mit Gelassenheit und ließ den Angreifer oft an seiner angreifenden Natur untergehen. Es schien fast schon so, als wollte er nicht gewinnen, sondern vielmehr, dass er von seinem Gegner die Einsicht zu Verlieren abgewinnen will, um schlussendlich auch zum Sieg zu gelangen. Naturaleza gilt als einer, den Sieg oder Niederlage nicht interessiert. Er wollte immer nur Tennis spielen, am liebsten sogar bis in die Unendlichkeit hinweg. Er gilt als Bringer par excellence und diese Philosophie brachte ihm oft einen Sieg ein.
Ganz anders ist der Stil seines bedeutend jüngeren Herausforderers Maximilian Muster. Muster ist aggressiv und wird mit jeder Offensive noch intensiver. Muster galt schon als das Ass-Genie – seine Schläge sind präzise, stark und gewollt. Musters Devise baut darauf auf, einen Satz so schnell wie nur möglich zu beenden, um einen neuen Satz zu beginnen. Und im Gegensatz zu Naturaleza ist Muster auch spielbeherrschend, solange er den Aufschlag hat. Muster hat sogar den Weltrekord in Aufschlaggeschwindigkeit aufgestellt.
Es ist gegenwärtig sieben Minuten nach zwölf – das Match hätte schon längst beginnen sollen, aber es gibt noch Unregelmäßigkeiten in der Bodenbeschaffenheit. Während Muster auf Hartplatz besonders stark ist, kann Naturaleza seine volle Kraft mehr auf Rasen entwickeln. Es wird auf Sand gespielt! Die Stuhlrichter prüfen gerade den Sandzustand und scheinen in eine heftige Diskussion verwickelt zu sein. Ein Linienrichter nimmt gerade Maß an – derweil ein paar Hintergrundinformationen zur Austragung: Bisher war es immer so, dass die Balljungen eine Entschädigung von zehn bis zwanzig US-Dollar pro Match bekommen – das Kommitee hat aber beschlossen, dass die Balljungen zwei Tennisbälle des Matches behalten dürfen, die von den Spielern signiert werden. Auf die kritische Frage der Journalisten, ob das ein Symbol der Ausnutzung von jungen Menschen sei, antworteten die Verantwortlichen: "Mit der Unterschrift allein können die jungen Leute mehr Gewinn in der freien Marktwirtschaft machen, als sie es mit den paar Dollar tun. - Solange sie clever genug sind!" Und es gibt wirklich keinen Nachwuchsmangel für den Tennissport – insbesondere Naturaleza konnte in den vergangen Jahren eine große Schar junger Spieler für seine Vorstellung von Tennis gewinnen.
Ich sehe gerade, dass die Sponsoren beider Spieler in den Rängen Platz genommen haben. Es scheint fast eine Art von Arroganz von ihnen auszugehen, dass sie etwas verspätet eintreffen. So als hätten sie gewusst, dass sich der Start verzögert. Muster wird von einem namhaften Dosengetränkehersteller, dessen Namen wir nicht nennen wollen, gesponsert. Der Hauptsponsor von Naturaleza hat sein Vermögen mit alternativen Energien geschaffen – ihm liegt besonders viel daran, das Naturaleza gewinnt!
Ich sehe gerade, dass die Stuhlrichter das Spiel freigeben. Aufschlag von Muster – er scheint äußerst konzentriert, wirft seinen Ball in die Luft und schlägt zu! Im selben Moment tönt ein verstörender Schrei aus den Zuschauerrängen. Naturaleza blickt hinüber und wird zugleich vom Tennisball an der Schläfe getroffen. Er bricht zusammen – er liegt jetzt leblos am Boden. Der Schrei wandelt sich in ein Kreischen und der angeschlagene Körper Naturalezas zuckt nur an seinen Extremitäten. Alle Zuschauer stehen vor Entsetzen auf – aus dem Gebrüll zuvor wird Getuschel, aus dem Getuschel plötzlich ruhiges Schweigen. Beide Teamärzte, sowohl von Muster als auch von Naturaleza laufen zu dem darniederliegenden Naturaleza. Ich glaube sie wollen es mit reinem Sauerstoff probieren. Muster ist derweil etwas perplex – etwas verwirrt. Er hat schon oft mit einem Schlag, mit einem Ass Spiele entschieden, aber ein derartiges Phänomen ist selbst ihm fremd. Wir haben gerade erfahren, dass der Tennisball Naturaleza mit einer Geschwindigkeit von hunderdreißig km/h getroffen hat. Man muss sich vorstellen, dass der Ball wie ein Geschoss auf den Kopf von Naturaleza eingeschlagen hat. Die Sportärzte winken dem Stuhlrichter – die Manager von Naturaleza müssen w. o. geben. Ein zweifelhafter Sieg für Muster, ein zweifelhaftes Spiel. Naturaleza wird mit einer Trage vom Spielfeld getragen – es ist wohl eine Gehirnerschütterung, mindestens. Muster wirkt etwas perplex – etwas verwirrt. Das Match scheint wohl beendet zu sein, auch wenn es keinen Sieger gibt, sondern nur einen Verlierer. Ein deprimierender Tag für das Profitennis – ein Match, schon beim ersten Aufschlag beendet, das gab es noch nie. Wir werden unsere Live-Berichterstattung hier wohl ebenfalls beenden und verabschieden uns von unseren Zuhörerinnen und Zuhörer. Es folgen noch ein paar Beiträge unserer Sponsoren, Vaseline und Müller-Milch, danach wird ein Schlager-Special gesendet. Ein Sample der besten Schlagersongs der letzten Jahrzehnte. Ich verabschiede mich aus Ecuador, es hätte den Zuhörerinnen und Zuhöreren hier sowieso nicht gefallen, denn es wird heißer und heißer, wir schwitzen, wir atmen schwer, uns bleibt die Luft weg!