16:43 Uhr - sicherlich die Uhrzeit wo Karl gerne auf die Uhr schaut. Fast schon ein Ritual - zur selben Zeit und obwohl seine innere Uhr ihm immer wieder zu sagen gibt: "Bestätige mich, indem du mich prüfst" ist es für ihn doch nur jene Zeit wo er sich langsam auf seinen wohlverdienten Feierabend vorbereitet. Nicht das Karl zuhause das zu erwarten hat, was er sich in seinen jungen Jahren erhofft hat.
Ein Leben, das sich von der schnöden Tätigkeit des beruflichen Alltags abhebt und zugleich ihm jenen Aufwind gibt, den er nötig hat um den nächsten Tab bis zu dieser magischen Uhrzeit 16:45 durchzuhalten - es war Freitag, aber das wird erst später wichtig. Er hat gute 15 Minuten Zeit um den Realismus abzuschalten, der acht Stunden lang seinen Alltag diktierte um sich bald aber sich seiner Fantasiewelt zu widmen - eine Fähigkeit, von der Karl immer glaubte nur allein er sie zu besitzen - die Fähigkeit, die reale Welt per Schalter ab- und einzuschalten - doch seine Realismusflucht ist nur ein Echappement zu seiner persönlichen Romantik, die auch zugleich sein erster Schritt ist. Beschrieb sich doch sein Leben als eine seltsame - dokumentierte Anreihung von desinfizierten Fakten, die sich nur auf die Erinnerung an sein Frühstück zuhause berufen, wird der Weg zwischen 16:50 und dem Abgleich an der digitalen Stechuhr sein großer Roman. Gelernte Kleinigkeiten sind es, die seine Berufung von der Berufung eines anderen gänzlich unterscheidet. Hätte er den Moment zu sinnieren und hätte er nicht schon längst diesen Gedanken das eine oder andere mal gesponnen, wäre es doch nur eine Belanglosigkeit im Hamsterrad der kognitiven Bemühungen der Mittelschicht. Natürlich - in seiner Kindheit tat er die ihm auferlegten Hausaufgaben, von der Volksschule bis zur Maturität und jedesmal beendete er sein Tagwerk mit der obligatorischen Ordnung seines Schreibtisches. Bunte Stifte, in die Schale für bunte Stifte - Spitzer und Radiergummi, abgelegt in einem Fach neben der Schale für bunte Stifte. Buch und Heft, wo das Buch seine Vorlage und das Heft die Dokumentation seiner Leistung verschwinden geschwind in einem Fach unter dem Schreibtisch - manchmal, den manchmal braucht er es schon morgen wieder - dann verstaute er es im Schulranzen unter dem Schreibtisch, den Vorbereitung beginnt und begann immer schon jetzt gleich - für morgen, übermorgen oder gar in ferner Zukunft. Hätte er schon damals als kleiner Schulbub gewusst, das diese Ordnung, dieses sich Vorbereiten auf Morgen, auf ein Morgen das definitiv sicher kommt und kommen wird, eigentlich nichts anderes war als eine Vorbereitung auf genau jetzt, dann bräuchte er nicht diesen unnötigen Gedankenimpuls als Reflexion seiner Selbst im Hier-und-Jetzt. 16:55 - der Befehl zum Herunterfahren wurde ordnungsgemäß ausgeführt. Er merkt es - und obgleich er schon seit Jahren das selbe Prozedere erlebt, ist es das kurze Aufflackern des Bildschirm, zwischen dem unter Strom-stehenden Schwarz und dem "natürlichen" Schwarz des Monitors, welches ihm seinen Feierabend legitimiert - erlaubt. Im Laufe der Zeit - in seiner langjährigen Zeit als Verwaltungsbeamter, hat sich der Shutdown seines Rechners geändert - ein kleines Piepsen zwischendurch. Ein Geräusch welches er irgendwann einmal bemerkte aber nicht monierte und Teil seines Feierabendritual wurde - im Hintergrund, ein Prozess der vielleicht schief läuft - irgend ein komischer Dienst der seinen Dienst nicht mehr machen will. Die Welt der Informatik war ihm nur als Anwender bekannt und dabei wollte er es auch belassen - es einfach gut heißen, war seine Maxime. Hätte er nur diese wenigen Gedankensekunden seinem seltsamen Shutdown-Verhalten, schon sein Jahren, geschenkt, würde sich aus seinem Realismus vielleicht ein Narrativ entwickeln - eine Geschichte entwickeln die Phantastischer nicht sein kann und ihm in seiner Umwelt - einer Umwelt en naturell etwas glorreiches neues beschert. Doch nicht Karl - er war jetzt für acht Stunden lang genug der Hugo für die Anderen, und wollen die Anderen auch nicht mehr sein, als irgend ein abstraktes Soziologisches Geflecht in welches er sich eingebunden fühlt. Johann-Jakop, ein skurriles Namenskonstrukt für einen Super-Visor - für seinen Super-Visor. Dieser Doppelname will Karl einfach nicht aus dem Kopf gehen - sein Name verschaffte ihm unzählige anglizistische Akronyme - Jay Jay - Double J - JoJa. Ein liebevoller Mensch - in seinem Wesen. Einer der als Lehrer gerne Gärtner oder Steinmetz gewesen wäre. Wirklich jetzt - so richtig nämlich. Anstatt die lieben Kleinen vollzuquatschen wäre der Mensch lieber draußen in der Natur oder wenigsten in seiner Werkstatt. Würde gerne an schönen sonnigen Tagen der Erquickung mit einer Gießkanne seine Pflanzen gießen und an Tagen des tristen Wetters und dem Unmut mit voller Kraft den Stein behauen - Aggressionsbewältigung par excellence. Doch sein aufbrausendes Gemüht hat ihn von dem einem und dem anderen Schicksal bewahrt und so wurde er halt Super-Visior eines Karls, der für ihn nicht mehr als eine Kostenstelle und nicht weniger als netter Zeitgenosse war. Gerne hätte man ihn gesehen, wie er neben dem digitalen Zeiterfassungsgerät steht und vertrauensvoll seine Hand auf die Schulter seines Untergebenen legt - mit den Worten: "Sie haben heute wieder viel geleistet!" - Dieser Satz alleine würde sein Tagessalär bestätigen - doch um dieser seltsamen Begegnung zu entrinnen und gleichzeitig den Schein zu wahren, ist es auch Karl recht, das es nicht passiert. Er hat schon in seinen acht Stunden davor die "Grenzen Europas" neu geordnet - die Erinnerung an seine Leistung ist ihm Lohn genug - neben dem wohlverdienten Einzeiler monatlich auf seinem Kontoauszug. 17:00 Uhr - pünktlich genug um die volle Zeit zu kassieren, abartig genau um vor seinen Kollegen wie ein Pedant zu wirken. Aber kein Problem für ihn - seine Arbeit ist halt seine Arbeit und nicht der Mittelpunkt seines Lebens. Überstunden und Überminuten sind doch absurd - und jeder der ihn kennt, will ihm seine Einstellung nicht schlecht machen - sie ist gänzlich berechtigt, gänzlich konform. Erst nach seinem "auschecken" zog er seinen Mantel an und steckte noch einen Prospekt in seine Tasche, der ihm herausrutschte. Ein Prospekt für von einem Baumarkt - unwichtig für ihn, er ist kein Handwerker und kein Neugestallter. Steifheit in seinem Habitus und Begeisterung für den technischen Fortschritt, während er seine Personal-Id-Card über den Card-Reader zieht. Ein bestätigendes Piep - das zweite schon, innerhalb der kurzen Zeit seines Verlassens. Es war für ihn irgendwie eine Art Volksgeist, fast ein Märchen das sich auftut, welches nicht nur er in dieser Firma erlebt, sondern synchron überall auf dem Erdball, wo das digitale Zeiterfassungssystem "Laokoon" zur Anwendung kommt. Er schrieb nicht nur seine Zeit, ein er dokumentierte sie, er war Teil einer Geschichte, die sich zwischen irgendwelchen Excel-Sheet-Spalten und Zeilen wiederspiegeln wird. Könnten doch nur alle diese Gesichte erfahren - es würden sich alle nur langweilen. Und so geht er natürlich - verlässt das Gebäude über die Pforte und die große Birke am Parkplatz erscheint ihm wie die Vollendung der Natur. Hatte er doch über acht Stunden nur diesen eine Ficus Benjamina, diesen einen Gummibaum vor sich - seine Erfahrung wird ihm zur romantischen Einstellung seines Gemüts. Der Weg zum Auto wäre sein normaler Weg gewesen - nur allein, das Auto braucht sein 19jähriger maturierender Sohn für seinen Weg vom häuslichen Domizil zur Ausbildungsstätte. Aber warum auch nicht - er fährt gerne mit den Öffis. Es ist eigentlich nur ein kurzer Weg von seiner Arbeit zur Haltestelle und später von der nächsten Haltestelle zu seinem Heim. Die zusätzlichen Schritte tun ihm gut - er würde doch sowieso die 10.000 Schritte niemals schaffen, aber 2.000 sind schon ein Anfang. Und welche Schauergeschichten mögen sich in der Straßenbahn doch auftun? Wahnsinnig-gewordene coronoviruserkrankte Rauschgiftsüchtige die in einem islamistischen Religionswahn Amok laufen. Ein Nebendarsteller in dieser Geschichte zu sein, schreckt Karl nicht wirklich ab - er hat schon schlimmeres auf der Mattscheibe gesehen. Vielmehr stellt sich plötzlich, nach all den schönen Farben seiner Birkenerfahrung eine Depression ein - die Depression zu wissen, dass seine Polsterbezüge nicht die Liebe versprechen die sie in der Ausarbeitung versprechen wollten. Dunkelgrau - buntgemustert und wieder hoch technifiziert - doch gleichzeitig gewöhnlich, weil es zur Gewohnheit der Anderen wurde aber für ihn die Agonie seiner Empfindungen nicht sein wollte. Vielmehr befreite er sich von dieser Last - von diesem Zeugnis, von seiner Maske die er in seiner Arbeit zu tragen hatte - eine Maske die so nicht emotionslos sein könnte wie sie nicht aus Eisen gegossen wurde. Es war die Maske die seine edle Herkunft verhüllt um ihn als Werkzeug des Verwaltungsapperat einzusetzen - und das edle in seinem Wesen war die Beschaffenheit seiner Empfindung. Kinder - Schüler|innen alberten in der anderen Ecke des Straßenbahnabteils - und wäre er ausschließlich durch seine Gedanken bestimmt - er wäre der böse Wolf, das abschreckende Beispiel der lebenden neuen Generation geworden. Seine Einstellung aus seinen Gefühlen eine Ästhetik abzuleiten, verlässt ihn und er konzentriert seinen Blick hinaus durch die spiegelnden Fenster Straßenbahn - der Verlust seines Seins soll die Bereicherung seiner Welt sein. Ein Lächeln zaubert sich auf sein Gesicht - war er doch Diener für seinen Super-Visior und die Stechuhr - die digitale - er wäre nur allein nicht allein in seiner Tat und der Hunger allein, den er nicht zu stillen vermag ist das Wesen seines seins. Hat er gerade heute in der Kantine die doppelte Portion verlang - jetzt findet er es lustig (würde es ihn nicht der Kalorien wegen belasten). Es spielt sich für ihn plötzlich der irrsinnige Gedanke ein, die falsche Straßenbahn gewählt zu haben - oh Gott - eine Straßenbahn irgendwo anders hin - womöglich irgendwo weit weg außerhalb am Stadtrand. Ein Bezirk weit weit weg von seinem Daheim. Wo er Minuten über Minuten warten müsste - um endlich auf einen zu treffen - der einheimisch in diesem Bezirk ihm seine Verbundenheit kundtut, indem er der Willen des Verlassens seines Bezirks kund tut. "Ich möchte gerne nach ... fahren" - dieser Satz alleine, würde ihn von den Seinesgleichen abtun und ihn zum Freund empor heben - den er so brauchen würde, in diesem fremden Bezirk. Diese Leute in diesem fremden Bezirk könnten nicht Seltsamer sein als er es selbst ist - sie könnten größer oder kleiner sein - sie könnten der Beweis seiner Abkehr sein. Aber sein Weg war Richtig und die Wahl der Straßenbahn könnte nicht valider sein, als sie es ist. Und so fuhr er auch, Station für Station weiter gen seinem Zuhause - ein Zuhause, welches sein Begriff war und er gerne im Austausch seiner Seele dem Teufel gegenüber für eine Kuss der Vergangenheit eintauschen will. Nicht als wenn seine liebende Frau zuhause sein würde - nicht als wenn, er würde dem Teufel seine Seele vermachen um damit neuer Erkenntnis Bereicherung zu erfahren. Das ist doch absurd - in seinem Straßenbahnleben. Seine liebende Frau wartet doch zu hause, aber jene zu küssen, die er noch vor Jahrzehnten seine Liebe versprochen hat - jenes junge Ding, für die damals Kriege beschritten worden wären - zu küssen, er ist zerrissen - er kann nur mit dem Satan kollaborieren. Damit hat sich auch sein Leben beschränkt auf die kurze Zeit seiner eigene Erkenntnis. Er hat sich selbst in seiner Straßenbahn bis zum Klassizismus und seinen Anfängen herangewagt. Aber es ist nicht so, dass jedem Menschen der Weg bis zu Archil oder gar zu Gilgamesch beschert ist und so ist auch sein Weg, durch die nächste Haltestelle beschränkt. Zwischen dem, dass Russland die Macht über das Baltikum erlangt und der Amerikanische Unabhängigkeitskrieg entfacht landet unser Karl in der Dynamik der Revolution - will man sagen, der französischen sogar. Es ist das Ende seines Seins. Er hat einfach nicht die Möglichkeit - mitzuerleben wie ein Held durch eine Pfeil in seine Verse zugrunde geht. Abgesehen davon: Baron und Grandeur - bestenfalls Gesichten seiner Ahnen. Die Konstruktion eines Utopias - nur eine Erlaubnis seiner romantischen Vorstellungen die ihn zur Dystopie noch nicht gezwungen haben. Er ist nur ein Fragment der Gesichte - und genau das tut ihm wahrscheinlich auch gut - wo er die Transzendenz Gut noch nicht wirklich verstanden gelehrt bekommen hat. Corona wird nicht unser Leben verändern, diese meine Worte werden es tun!