Literatur
Dürrenmatts Physiker
vom 13. Dezember 2019

Will man einen Text von Friedrich Dürrenmatt auf einer Theaterbühne erzählen, hat man zwei Möglichkeiten. Ersten, man hält sich Punkt für Punkt, Beistrich für Beistrich und Wort für Wort an die Vorlage oder Zweitens, man macht irgendetwas etwas anderes. Wobei natürlich vom Zweiten tunlichst abzuraten ist. Natürlich gäbe es noch eine dritte Option, in der Dürrenmatt selbst Regie führt - nur allein, sein Tod schließt diese Option mit den herkömmlichen (unspirituellen) Methoden völlig aus. [Ich schmunzle: Mir erschien der Dichter-König Dürrenmatt und er diktierte mir das System aller möglichen Theaterproduktionen]. Zurück zur Chronologie. Gestern besuchte ich die Theateraufführung: "Die Physiker" im Grazer Schauspielhaus. Heute sitze ich hier bei Schnaps und Rauchwaren und schreibe diese Beobachtungen und morgen jährt sich der Tod von Dürrenmatt - ich werde wohl die ganze Nacht durchschreiben um nicht den Abgabetermin zu verpassen.

Als Kritik hinsichtlich der Theateraufführung kommt mein Text hier definitiv zu spät - die Premiere ist schon lange vorbei, die Kritiker haben schon alle ihre Lohnarbeit erledigt und mit schnöden einfachen Worten die Aufführung beschrieben: "Sehenswert, viel Applaus, modern und befreit vom Staub". Mir selbst war nicht klar von welcher Art Staub im Zusammenhang mit einem Dürrenmatt-Text zu sprechen bzw. schreiben ist - aber die Wege des Kleinhirns sind unergründlich. Und wenn ich Eingangs schon von zwei Möglichkeiten der Theaterinszenierung geschrieben habe, so muss ich leider sagen, dass die Grazer den zweiten Weg gewählt haben. Natürlich haben sie dabei aus dem Vollen geschöpft und sind untergegangen in einer Flut von Expression wie es Goethes Zauberlehrling einst schon erfuhr. Walle walle manche Strecke, dass zum Zwecke Nonsens fließe ... und jetzt sollen seine Geister auch nach meinem Willen leben. Selbstverständlich ließ sich Dürrenmatts Geist nicht in dieser Inszenierung inkarnieren - da hat das Gespann Bossard/Weiss eine Rechnung ohne Wirt und Kundschaft gemacht! Auch kann nicht von einem Provokationstheater ausgegangen werden in welchem die Zuschauer|innen polarisiert werden und einzig und allein in die Denkrichtung "Liebe oder Hasse es" gedrängt werden. Dafür war keinerlei ernsthafte intellektuelle Auseinandersetzung mit Dürrenmatts Texten erkennbar um neidzerfressenen, missgünstigen Hass als Zuschauer entwickeln zu können. Dieses Gefühl, einer Inszenierung gegenüber zu sitzen, die ein "Ich habe Dürrenmatt verstanden - du auch?", welches aus der Liebe zu Dürrenmatts Text einen Hass erzeugt, war für mich nie zu spüren. Es war für mich eher so, dass ich zwar Heulen wollte, aber keine Träne über meine Tränensäcke floss, das ich Übelkeit verspürte aber in einer Art Schockstarre verharrte aus welcher ich zwar hätte Flüchten können - jederzeit, einfach meine Loge verlassen und hinaus - rauchen so wie es die Schauspielerinnen unten auf der Bühne taten. Ja, sie rauchten eh brav in einem hermetisch abgeriegelten Glaskasten, in welchem, (ich kann mich auch täuschen) Originalzitate aus den "Physikern" vorgetragen wurden und hielten damit auch die vorherigen Fassung des Nicht-Raucher-Schutz in Österreich ein! In der aktuellen Fassung müssten sie draußen rauchen - es wäre nicht zum Schaden des Stücks gewesen. Wobei, und ich habe mich vorbereitet. Als Begleitung hatte ich eine äußerst gewandte Freundin, welche mir eine einwandfreie, großartige Leistung der Schauspieler|innen bescheinigte. Ich will damit auch keine weitere Kritik am "ausführenden Organ" tun, sondern mein Auge wieder auf Bossard/Weiss richten. Was ging da überhaupt vor? Ich vermute, es war eine Art von demokratischem Theater, in welchem die Hauptverantwortlichen alle an der Produktion Beteiligten einzubeziehen und auch alle Ideen und Vorschläge umzusetzen. In der Probe einer Szene, kam höchstwahrscheinlich die Frage: "Was könnten wir ändern, was könnten wir besser machen?" und einer der Schauspieler oder innen vorschlägt, das die Physiker ab nun von "Pferden" bewacht werden sollen - Lassez faire in der Umsetzung! Das Resultat: ein clowneskes Rumgehoppse verbunden mit einer hoch performanten Leistungsshow der Schauspieler|innen. Die brüllten und schrien herum und brachten hochkomplexe Texte zum Besten, die so einfach nicht bei Dürrenmatt zu finden sind. Der Doktor selbst würde sich niemals auf ein derart niedriges Niveau herablassen, um mit übertriebener Fachterminologie zu trumpfen - dieser Trumpf schlägt nur die Kreuz Drei, und nicht mehr. Dabei hatte es Potential. Die Physiker in Jogging-Anzüge zu stecken - jeder in einer anderen Farbe. Das hat Modernität und wäre Authentisch. Die Rolle des Möbius von zwei Schauspielern gleichzeitig zu spielen - schon, schon, schon - da hätte ich doch ein Bravo übrig gehabt. Aber die massiven Abschweifungen vom Originaltext, machten die Aufführung zu allem Anderen, aber definitiv nicht zu einem Dürrenmatt-Spiel. Deshalb war arglistige Täuschung, die Produktion mit dem Autor: "Friedrich Dürrenmatt" und dem Titel: "Die Physiker" zu verkaufen. Blicken wir hinüber nach Amerika. Dem Land der Geschichtenerzähler und dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Was machen diese? Sie nehmen einen Stoff - übersetzen ihn in ein Treatment bzw. Drehbuch und modernisieren bzw. interpretieren ihn neu. Nun haben aber Menschen wie z. B. die Coen-Brüder oder Kubrik die Cojones ihre Neuinterpretationen von klassisch-unsterblichen Texten neu aufzuführen aber gleichzeitig auch die Integrität ihr Schaffenswerk nicht hinter dem Genius des Urhebers zu verkaufen. So wurde aus der "Traumnovelle" --> "Eyes wide shut" und aus der Odysee --> "Brother, where art thou". Beide Bespiele haben einen Text neu interprediert und beide haben ihre Filme mit einem "based on" firmiert. Warum taten es Bossard/Weiss nicht? Warum gaben sie ihrer Aufführung nicht den Titel: "die hard: physiker" - warum fanden sie keinen neuen Titel für das, was sie erzählen wollten - die Dürrenmattschen Physiker waren es definitiv nicht. Ich habe mich, als ich die Karten kaufte, auf einen schönen Theater-Abend gefreut. Auf einen Abend in welchem ich die Aussage Dürrenmatts mit meiner äußerst charmanten Begleitung diskutieren konnte. Einen Abend der Komödie - wo man über die bisher noch lange nicht beantworteten Fragen Dürrenmatts sprechen konnte. Anstatt dessen wohnte ich einer Aufführung bei, in welcher in Überzahl, junge Schüler|innen, die den Auftrag bekamen, "Die Physiker" zu lesen um eine Buchbeschreibung abzugeben und im Grunde eine Groteske abliefern werden - nur weil sie lesefaul sind und reich genug um in der Hoffnung mit Geld einen Inhalt zu kaufen - umso einer positiven Note der 7abcd in Deutsch entgegen wandeln zu können. Sie werden uns schon die Geschichte erzählen - sie werden für uns schon jene Arbeit erledigen, die eigentlich - liest man Dürrenmatt leidenschaftlich - keine Arbeit ist, sondern eine Bereicherung sein sollte. Es kommt bei mir wieder der Pädagoge hoch (der eigentlich wirklich eine Neuinterpretation der Physiker sehen wollte). Ich sehe schon die Buchbeschreibung und das verzweifelte Gesicht der|des Deutsch-Lehrers: ... und am Schluss gab es eine brutale Schießerei ... Für die aus Wikipedia-Copy-and-Paste-Generation war die Aufführung definitiv genial gesetzt - aber was ist mit uns? Mit uns, die die Text Dürrenmatts vergöttern, weil sie Verehrung abverlangen - und das zu Recht! Warum dürfen wir nicht, die jene wenigen Kritikpunkte in Dürrenmatts Texten gerne von anderen interpretiert wissen sollen, einen Abend lang einer gänzlichen Neudeutung folgen. Warum wurden offene Fragen nicht thematisiert? Es beginnt schon mit der Frage, ob Inspektor Voß schon den ersten Mord untersuchte? Täte er es nicht, so wären erst alle weiterführenden Konversationen stringent. Die Literaturvorlage lässt hier diese Frage komplett offen - das Fernsehspiel von 1964 verwies eindeutig auf einen Herrn Inspektor Siegenthaler, der die Untersuchungen von damals erledigte. Ansonsten hätte doch Inspektor Voß "Newton" gekannt. In Folge (zwischen dem Genie des Textes) kam bei Dürrenmatts Text sehr wohl die Fremdifferenzierung aus der Rolle des Physikers zum Geheimagenten vor. Im zweiten Akt, nach dem alles Morden erledigt war, wurde die Thematik des Duells zwischen den rivalisierenden Geheimbünden hervorgehoben. Im Text: ist von einem Colt und einer Browning die Rede - beides Waffen aus Nord-Amerika. Dürrenmatt hat in seinem Genie, die Agententoffenbarung eindeutig einem bestimmten Land übertragen. Dass es eine Auseinandersetzung zwischen Ost und West sein soll, ist deduzierbar. Das aber das bestimmte Land klar erkennbar ist, bleibt gänzlich offen - so versteht er es, die geographische Zuweisung brillant zu verschleiern und wird in Folge von "Machtpolitik" und "Freiheit" schreiben. An dieser Stelle meiner Kritik, verweise ich auf das katastrophale Schauspiel der Grazer|innen, welches keine einzige Problemstellung innerhalb der Dürrenmattschen Textinstanz bearbeitet hat, aber durch das groteske Schauspiel mich von einem Dürrenmattschen Grundsatz gänzlich befreite - dem Grundsatz: "Verzapfe keinen Tiefsinn, füge dem Problem kein weiteres hinzu". Und so kann ich, dank dem seltsamen Schauspiel einer Provinzstadt wie es Graz ist, endlich über Fragen schreiben, die mir bisher im ständigen Respekt gegenüber einem von Menschenhand konstruierten Labyrinth, als welches es nur wenig entkommen gibt, schreiben. Eine Gruppe von naiven jungen Schauspieler|innen und ihrem Regie und ihrer Dramaturgie, befreien mich vom Grundsatz: "Verzapf keinen Tiefsinn, füge dem Problem kein neues hinzu". Die Innovation des Dürrenmattschen Text liegt eindeutig und allein, in der Unfähigkeit des Autors die Zukunft zu kennen --> "Aussagen wie: ... eine Insulintherapie wäre wieder einmal fällig gewesen" sind definitiv jene Aspekte, die einer Modernisierung unterworfen sind - Dürrenmatt ist kein böser Mensch - er ist eher ein Vater der mit seinen Texten seinen Kindern einen Spielplatz bauen möchte. Aber, eine Insulintherapie ist schon lange obsolet - genauso, von Drogen innerhalb der psychiatrischen Heilkunst zu sprechen. Gegenwärtig also, wäre eine neuroleptische Therapie schon lange notwendig - befreite man Möbius von einer Psychose - aber ihn quälen möchte ich auch nicht. Da nun also von Dürrenmatt niemals nie, eine offensichtliche Diagnose seiner Physiker begangen wurde - und es sollte sein Genius bleiben, nicht in fremde Gewässern zu fischen - können Aussagen zur Anamnese des Krankheitsbild nicht getroffen werden und auch nicht in die Kritik einfließen. Das Genie zeigt sich nicht durch Weisheit, sondern durch Schweigsamkeit in der Unwissenheit. Und so ist eine Insulintheraphie schon lange nicht mehr notwendig. Diese Physiker jedoch, haben literal schon zwei Persönlichkeiten - die des Physikers in Person und eine alternierende Realität als Geheimagent. Hier spielt sich das tatsächliche Moment des Dürrenmattschen Universums ab - und Dürrenmatt scheut sich nicht, seine Leser|innen in ein Labyrinth zu führen. Die grundsätzliche Aussage ist folgende: Mir erschien der König Salomon und er diktierte mir das System aller möglichen Erfindungen. Diese wurden protokolliert - sie wurden: "alles denkbare wurde gedacht und kann nicht zurückgenommen werden" gedacht. Worum also es wirklich geht ist: Trifft man auf einem Menschen, der nach einem halben Liter Bier rülpst, können wir ihm entgegnen: "Unter der Betrachtung einer epikurischen Philosophie nimmt Kants Transzentalphilosophie eine neue Dimension an"!

Thomas Maier
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